„Viele nehmen den Begriff Achtsamkeit derart ehrfürchtig in den Mund, dass man meinen könnte, dass Ihr Seelenheil von einem Leben in Achtsamkeit abhängen würde. Kannst du mir einmal erklären, was es denn damit nun wirklich auf sich hat? Du kennst dich doch damit aus, oder?“, fragte mich unlängst ein Freund.
Mich wundert es ehrlich gesagt nicht, wenn es Menschen gibt, die tatsächlich so empfinden. Denn ein fokussierter Bewusstseinszustand, in dem man versucht, wahrzunehmen, anstatt zu bewerten und zu wollen, kann sich tatsächlich Lebenslauf-verändernd auswirken.
Erstaunlicherweise erscheint die Achtsamkeit jedoch in der Praxis als komplett unspektakulär, fast schon fade. Doch das liegt nur daran, dass in unserem Leben alles und jeder um unsere Aufmerksamkeit buhlt. Noch schneller, noch lauter, noch bunter. Da kann einem eine ruhige, achtsame Minute schon einmal als fade erscheinen. Trotzdem oder gerade deswegen ist die Achtsamkeit der Schlüssel zu einem erfüllten, erfolgreichen und zufriedenen Leben.
Achtsamkeit vermindert Leiden
Apropos Zufriedenheit: In den alten Lehren, gleichwohl im Osten, wie im Westen, war das edelste Ziel der Achtsamkeit das Vermindern von Leid. Wenn wir uns einmal betrachten, was es mit dem alltäglichen Leiden so auf sich hat, fällt es leicht, dieses Konzept zu verstehen.
Im bekanntesten deutschen Wörterbuch, dem Duden, wird „leiden“ unter anderem so definiert: „(durch etwas, jemanden) körperlich oder seelisch stark beeinträchtigt werden; (etwas, jemanden) als schwer erträglich empfinden“. Dabei unterscheiden die Deutschversteher nicht zwischen einem objektiv und einem subjektiv beeinträchtigenden Umstand. Doch genau hier macht die Achtsamkeit sehr oft den Unterschied.
Ein Beispiel
Wenn Sie mit Hilfe von Achtsamkeitspraktiken lernen, sich von Ihren Denk-Automatismen und antrainierten Verhaltensweisen zu lösen, ist es möglich, „Leiden“ zu vermindern und letztendlich Ihr Leben zum Guten hin zu verändern. Lassen Sie uns hierzu einmal ein Beispiel betrachten. Sie befanden sich gerade in einem Raum mit vielen Kollegen. Als sie den Raum verlassen, beginnen plötzlich die drin gebliebenen lauthals zu lachen.
Sie hören das Gelächter und fühlen sich schlecht, denn Sie sind davon überzeugt, dass die Menschen über sie gelacht haben. Augenblicklich fühlen Sie sich gekränkt, enttäuscht und unsicher, da Sie noch nicht einmal wissen, warum diese Menschen über Sie gelacht haben. Ab jetzt ist es so, dass Sie jedes Mal, wenn Sie einem der Menschen begegnen, die sich damals in dem Raum befanden, unsicher werden, sich tollpatschig anstellen und Ihnen selbst die einfachsten Dinge schwer fallen. Dies fällt mit der Zeit sogar Ihren Vorgesetzten auf und anstatt Sie auf die Sache anzusprechen, trauen sie Ihnen einfach nicht mehr. Die Arbeiten, die Sie übertragen bekommen, werden immer anspruchsloser und irgendwann erhalten Sie eine Versetzung auf einen Posten, für den Sie hoffnungslos überqualifiziert sind. Sie verlieren nicht nur einen Teil Ihres Einkommens, sondern auch einen Großteil Ihres Selbstvertrauens…
Es geht auch anders
Klingt krass? Mag sein, könnte sich aber tatsächlich so zutragen. Doch was ist denn nun genau passiert? Ich meine, ganz objektiv betrachtet. Zufällig zu der Zeit, als Sie den Raum verlassen hatten, passierte etwas, das die Anwesenden als sehr lustig empfunden haben. Sei es ein gut pointierter Witz, ein Missgeschick eines der Anwesenden, ein putziges Haustier, das seine Possen getrieben hat, oder was auch immer.
Diese ganze Geschichte konnte Sie nur deshalb beeinflussen, da Sie zwischen Ihrem Gehen und dem Gelächter eine Verbindung hergestellt haben. Sie haben das Gelächter persönlich genommen. Ab diesem Moment begann Ihr Leiden, denn Sie wurden seelisch-emotional stark beeinträchtigt. Eigentlich nicht wirklich von der Situation, sondern vielmehr von Ihrer eigenen Interpretation der Sachlage. Aus einer selbstsicheren, qualifizierten Person wird ein unsicherer Mensch, dem schon die geringsten Ansprüche Stress bereiten. Mit der Zeit passen sich die Lebensumstände an die eigenen Vorstellungen an und die Mitmenschen nehmen die neuen Gegebenheiten wahr und handeln entsprechend.
Ein wenig Achtsamkeit in solchen alltäglichen Situationen verschafft die Klarheit und Distanz, um Situationen als das zu erkennen, was sie sind, anstatt sie zu interpretieren und so Leiden entstehen zu lassen.