Wir leben jeden Tag, als hätten wir ewig zu leben. Wir geben uns allerhand „Zeitvertreiben“ hin, von Rätseln über Spielen, bis hin zu Fernsehen und endlosen Computer- und Handysessions. Doch was vertreiben wir dabei eigentlich? Unsere Langeweile? Unsere Lebenszeit?
Angst vor der Endlichkeit
Haben Menschen zu viel ungefüllte Zeit, ergreift sie oft eine unbestimmte Unruhe, vielleicht auch eine Angst. Die Angst vor Krankheit, Siechtum, Tod…der Endlichkeit des eigenen Seins. Das kann einer der Hauptgründe sein, warum wir es so eilig haben, unsere Lebenszeit zu vertreiben.
Doch was, wenn wir unser Augenmerk in der ungefüllten Zeit nicht auf unsere letzte Stunde legen würden, sondern uns statt dessen viel lieber darum kümmern, was in all den Stunden zuvor passiert? Also in den gelebten Stunden?
Dabei kann Ihnen, lieber Leser, liebe leserin, vielleicht die folgende Erzählung helfen:
Eines Tages durchschritt ein Wanderer eine blühende Landschaft. Hier sah er duftende Blüten, die in der Sonne farbenprächtig strahlten, dort standen dagegen harte Dornen. Manche der Pflanzen auf der Wiese waren jung und saftig grün, andere wiederum verdorrt und lange schon ohne Saft und Kraft, wiederum andere stanken faulig und waren nicht mehr ansehnlich.
Plötzlich bemerkte der Mann, dass vor ihm eine Mühle stand, aus der soeben eine Frau trat. Sie hatte eine Sense in der Hand. In aller Ruhe trat sie auf die Wiese und begann, mit langen, rhythmischen Schnitten die Wiese zu kürzen. Kurz darauf schob sie das gemähte Gut mit Ihren Händen zusammen und trug es in Richtung Mühle. Mit einem freundlichen Blick sprach Sie zu dem Fremden: „Tritt näher! Wenn du möchtest, kannst du mein Gast in der Mühle sein.“
Die Mühle der Sanduhren
Das Angebot nahm der müde Wanderer gerne an und trat in den großen Hauptraum des Gebäudes ein. Dort stand alles mit einer unendlichen Anzahl an kleinen Sanduhren voll. Sein Blick folgte jeder Bewegung der Müllerin. Währenddessen nahm sie das gemähte Grün und warf es oben in den Behälter für das Mahlgut. „Welchen Sinn hat, was Ihr tut?“, fragte der Gast.
Die Frau fuhr in ihrer Arbeit fort und sah dabei kurz zu dem Fragenden. Sie stellte ein Gefäß unter den Mühlstein und darin fing Sie eine Art Mehl auf. Der Mann sah sich fragend um und bemerkte, dass alle Sanduhren oben offen waren, und schon warf die Frau die Schüssel mit dem Mehl in die Luft, so dass das Mehl wahllos über die Sanduhren fiel. In einige der Uhren fiel auch tatsächlich etwas von dem Mehl hinein, in andere wiederum nicht, sie standen ungünstig.
Zeitenmehl fliegt
Nun wollte es der Wanderer genau wissen: „Werft Ihr ein Zeitenmehl in die Luft? Aber dadurch verschwendet Ihr doch viel von der Zeit? In einige der Sanduhren fällt doch gar kein Mehl. Was geschieht dann?“
„Sobald kein Mehl mehr durch die Sanduhr rinnt, endet ein Leben“, antwortete sie. „Doch Ihr Menschen seid es ja gewohnt, viel von Eurer Zeit zu verschwenden. Es ist ganz normal, dass viel von dem Mehl daneben geht.“
Der Mann war verwirrt. „Doch wenn Ihr aus dem Heu die bitteren, fauligen und dornigen Pflanzen heraus sortieren würdet, dann wäre doch das Mehl schöner.“, entgegnete er der Alten. „Auf der Wiese der Zeit dürfen alle Arten von Pflanzen wachsen. Genauso gehören liebevolle, angenehme Momente zum Leben wie bittere und schmerzhafte. Jedes auch noch so ein kleines Krümelchen Mehl findet seine Sanduhr und lässt seinen Menschen wachsen. Meine Aufgabe dabei ist es, darüber zu wachen, dass die Wiese bunt und üppig bleibt.“
Der Bodensatz
Der Mann betrachtete die Sanduhren erneut gedankenverloren. Nun sah er zum ersten Mal, dass gar nicht alles Mehl, das in die Uhren gefallen war, auch tatsächlich unten auf dem Boden ankam. Seine Gedanken lesend, entgegnete ihm die Frau: „Nur gelebte Zeit sammelt sich als Erinnerung auf dem Boden der Sanduhr an. Verschwendete Zeit dagegen verweht. Lass dich also nicht ablenken. Schau dir nicht die obere Hälfte Deiner Zeituhr an, das einzige, was zählt, ist, was auf deinem Boden als gelebtes Leben, als Erinnerung ankommt.“