Sicher haben Sie bisher noch niemals diesen Begriff gehört, doch die Freizeitphobie greift immer mehr um sich. Ein Psychologe aus Barcelona, Rafael Santandreu, hat diesen Begriff geprägt. Er spricht von einer „fobia al ocio“, also eine Angst vor Freizeit, die immer mehr Menschen erfasst.
Dabei meint er, dass wir uns davor fürchten, nichts zu tun zu haben.
Woher kommt die Freizeitphobie?
Sicher fragen Sie sich, wie er denn zu solch einer Einschätzung kommen kann. Santandreu, als Verhaltenspsychologe, macht immer wieder die Beobachtung, dass sich die meisten Menschen gar nicht der Veränderungen bewusst sind, die um sie herum geschehen. Doch die Veränderung der Werte und das damit einhergehende Selbstbild sind es, die zu dieser modernen Angst führen.
In unserer Gesellschaft werden die Produktivität und die Effektivität überbewertet. Ein Mensch, der nichts tut, wird schief angesehen.
Da wundert es nicht, dass sich jeder nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, sich Aktivitäten aufzuerlegen, wo er nur kann. Selbst im Urlaub ist jede Minute durchgeplant und akribisch mit Aktivität belegt.
Doch den eigentlichen Anlass zu seinen Untersuchungen gaben ihm Patienten, die ausdrücklich seine Praxis aufsuchten, da sie Zweifel daran hatten, wie sie ihre Freizeit genießen könnten. Die Betroffenen waren derart von ihren Berufen und ihren Karrieren besessen, dass sie gar nicht mehr zulassen konnten, in ihrer freien Zeit Leerlauf zu haben. Oft genug nutzen Menschen ihre Arbeit auch als Vorwand, um sich ihrer Freizeitphobie nicht stellen zu müssen.
Wer keine Zeit hat, ist im Trend
Wer dazugehören möchte, hat keine Zeit. „Wie geht es dir?“ Eine einfache Frage, glauben Sie? So einfach ist das heute gar nicht mehr zu beantworten. Denn „Voll im Stress!“ oder „Du, ich bin gerade auf dem Sprung!“, werden immer häufiger gehörte Antworten, wo früher „Gut, danke“ oder „Prima und wie geht es dir?“ fielen.
Selbst schon ganz kleine Kinder hetzten von einem Termin zum nächsten und haben dazwischen gerade noch Zeit, die Hausaufgaben zu machen oder einen Happen zu essen. Langeweile stellt sich ein, wenn sie auch nur einige Augenblicke ohne geistige oder körperliche Ablenkung verbringen sollen.
40-Stunden-Woche und freier Samstag
In den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben Arbeitnehmerverbände bittere Kämpfe ausgetragen, um den arbeitsfreien Samstag und die 40-Stunden-Woche zu erstreiten. Für unsere Eltern waren zum Beispiel US-amerikanische Arbeitsverhältnisse eine Horrorvorstellung.
Familienväter, die eine zweite und dritte Arbeit annehmen mussten, um ihre Familie zu ernähren, sind dort Gang und Gebe. Doch inzwischen gibt es auch in Deutschland immer mehr Menschen, die sich eine zweite Einnahmequelle sichern müssen, um überleben zu können. Auch Überstunden und freiwillige Mehrarbeit sind heutzutage sehr geläufig. Moderne Arbeitgeber gestalten Arbeitsplätze so, dass die Arbeitnehmer immer weniger Grund haben, ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Anstatt sich mit der eigenen Familie und dem Freundeskreis zu identifizieren, identifizieren wir uns heute mit unserem Betrieb. Firmeneigene Kindergärten, Fitnessräume, Ruhezonen und sogar Kinosäle, sind keine Seltenheit mehr.
Angst als Grundmotor
Der Motor und gleichzeitig das Leitsymptom der Freizeitphobie ist die Angst. Angst, die sich steigern kann. Angst, die die Seele zerfrisst. Angst, die die Gesundheit zerstört. Angst vor der eigenen Freizeit. Angst vor der eigenen Lebenszeit. Möchten Sie es soweit kommen lassen?