Stehen Sie zur Seite?
Es ist schon ein paar Jahre her, als ich einen sehr geliebten Menschen auf seinem letzten Weg begleiten durfte. Es war wahrlich nicht leicht. Es sind immer so viele Zweifel auf solchen Wegen. Fragen. Quälende Fragen.
„Warum gerade er/sie?“ „Warum so früh?“ „Warum muss es diesen lieben Menschen treffen, wo es doch so viele „schlechte Menschen“ gibt?“ „Warum kann ich dieses schlimme Schicksal nicht vermeiden?“ „Warum kann ich diesem geliebten Menschen das Leiden nicht abnehmen?“ Das sind sicher noch die einfachsten.
Es ist gut, wenn man den letzten Weg ein wenig begleiten kann. Da hat die Seele Zeit zu verstehen. Zeit zu akzeptieren. Zeit loszulassen. Zeit zu wachsen. Es ist allerdings auch eine sehr verantwortungsvolle Angelegenheit. Denn diese Situation braucht vor allem eine Qualität: die Fähigkeit, zur Seite zu stehen.
Zur Seite stehen kann man lernen
Zur Seite stehen ist zunächst viel schwieriger, als man meinen sollte. Denn es setzt die richtige Haltung voraus. Eine Haltung, in der wir uns selbst zurücknehmen. Denn es ist sehr menschlich, andere Menschen beeinflussen zu wollen. Ihnen Lösungswege aufzeigen zu wollen, die im eigenen Leben immer erfolgreich waren. Helfen zu wollen, wo keine Hilfe gewünscht ist. Den eigenen Willen durchzusetzen. Zu beschützen. Zu führen. Zu beeinflussen. Zu kritisieren. Zu belehren. Zu vergleichen. Zu erziehen.
Doch all dies ist genau das Gegenteil von „zur Seite stehen“. Möchten Sie zur Seite stehen, sollten Sie lernen, anzunehmen – bedingungslos – also ohne Bedingungen daran zu knüpfen. Es geht nicht darum, zu sagen: „Wenn du in mein Raster passt, werde ich dich lieben.“ Es geht vielmehr um: „Ich liebe dich genauso, wie du bist, warst und sein wirst. Mit all deinen Eigenarten, die dich so einzigartig machen. Den unveränderlichen und den veränderlichen.“ Es geht auch um: „Ich nehme deine Lebenssituation an. Genauso, wie sie ist. Ganz gleich, ob ich mich damit wohl fühle oder nicht.“ Es geht auch um: „Ich begleite dich in deiner Lebenssituation, genauso, wie diese für dich richtig und wichtig ist. Ich helfe dir, wenn du Hilfe möchtest und benötigst, aber nur soweit, wie du es wünschst und gerade brauchst.“
Zur Seite stehen können wir jeden Tag, jede Stunde üben. Mit unseren Mitmenschen. Ganz gleich in welcher Situation wir uns befinden, und ganz gleich, welches Verhältnis wir zu diesen Menschen haben.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Kommt Ihnen irgendwie bekannt vor? Ja, den Nächsten lieben, ihn bedingungslos annehmen, genauso, wie er ist. Sich selbst lieben, sich bedingungslos annehmen, genauso, wie man ist.
Schwer? Ja sicher, oft genug. Unmöglich? Nein.